Philosophie der Fastnacht

In: der blaue reiter. Journal für Philosophie. Ausgabe 55, 1/2025.

 

Fastnacht, auch Karneval genannt, ist ein „Volksfest“ mit Verkleidung und Verkehrung, das heutzutage zwar ziemlich profan daherkommt, ursprünglich jedoch durchaus philosophisch war.

 

Der Ursprung der Fastnacht findet sich freilich nicht im Christentum, auch wenn der Kirche sehr daran gelegen war und ist, das Fest in ihren liturgischen Kalender zu integrieren: Fastnacht ist ein vorchristliches Fest, das von der katholischen Kirche im Mittelalter erst verboten und von der evangelischen Kirche in der Neuzeit zunehmend verchristlicht wurde. Dementsprechend hat auch das Wort selbst, „Fastnacht“, wahrscheinlich nichts mit der 40tägigen Fastenzeit vor Ostern zu tun, sondern leitet sich vom althochdeutschen Verb fasen („umherschwärmen“) ab.[1] Man darf bei dieser Wortbedeutung ruhig auch an die alten griechischen Bacchanten denken, jene „dionysischen Schwärmer“ (Nietzsche), welche bereits in der Antike – verkleidet als Satyrn und Mänaden – freudentrunken durch die Gegend zogen. Denn die sogenannten Dionysien zu Ehren des Ekstasegottes Dionysos bzw. Bacchus gelten in der Tat als Vorläufer der modernen Fastnacht. Schon damals zog man zum Frühlingsanfang einen geschmückten Schiffskarren mit Rädern über die Felder, um die numinosen Fruchtbarkeitskräfte der Natur anzuregen; von diesem archaischen Karren leitet sich wiederum das Wort „Karneval“ ab (lat. carrus navalis: „Schiffskarren“).

 

Die antiken Dionysien bzw. Bacchanalien waren keine inhaltsleeren Feste, wie es die moderne Fastnacht heutzutage so oft ist, sondern religiöse Kulte, in deren Zentrum die mystische Vereinigung mit dem Rauschgott stand. Die Bacchanten und Bacchantinnen versetzten sich in eine rituelle Trance, um mit dem Transzendenten in Kontakt zu treten, und sie nahmen diesen Zustand als eine Art Erlösung wahr: „Die dionysische Ekstase bedeutet vor allem die Überschreitung der menschlichen Bedingtheit, die Entdeckung der totalen Befreiung, das Erlangen einer Freiheit und Spontaneität, die dem Menschen sonst unerreichbar sind. Daß zu diesen Freiheiten auch die Loslösung von Verboten, von ethischen und sozialen Regeln und Konventionen gehörte, scheint sicher. Dies erklärt zum Teil auch die starke Anhängerschaft von Frauen. Doch rührte die dionysische Erfahrung an tiefere Schichten. Die Bakchantinnen, die rohes Fleisch verschlangen, zeigten wieder ein Verhalten, das seit mehr als zehntausend Jahren verdrängt war; eine solche Raserei legte eine Verbindung mit den vitalen und kosmischen Kräften frei“.[2] Die in Hirschkalbfelle gekleideten Bacchantinnen wurden Mänaden genannt, „Rasende“ (altgr. manía: „Raserei“). Interessanterweise behauptete bereits Jacob Grimm, dass sich der Name des „Rosenmontags“ ebenfalls von „rasen“ ableite und eigentlich der „Rasenmontag“ sei. 

 

Gleichwohl waren die Dionysien nur ein antiker Kult, auf den sich die Fastnacht kulturhistorisch zurückführen lässt: Auch bei vielen anderen Völkern gab es vergleichbare Kulte. Zum Beispiel bei den Römern: die Saturnalien, die schon von Goethe und Freud als Fastnacht bezeichnet wurden, die Lypercalien, bei denen man sich mit Bocks- und Wolfsfellen verkleidete, oder die Floralien, von denen sich die Sitte des Blütenwerfens herleitet (heute: „Konfetti“). Aber auch weiter im Norden findet man Vorläufer der modernen Fastnacht, namentlich bei den Germanen: die Wilde Jagd, die mit archaischen Tierverkleidungen und ekstatischen Tanzumzügen einherging, angeführt vom Göttervater Odin, der auch Grimnir genannt wurde, das heißt „der Maskierte“. Ja schon die Sumerer begingen vor 5.000 Jahren ebensolche Feste, bei denen man sich verkleidete und die soziale Ordnung durcheinanderbrachte. Wäre es zu weit hergeholt, zu vermuten, dass es sich bei der Fastnacht fürwahr um so etwas wie eine „anthropologische Konstante“ handelt?

 

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[1] So zumindest eine alte Theorie des Philosophen Johann August Eberhard. In: Ders.: Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig 1889, S. 366f.

[2] Eliade, Mircea: Schamanen, Götter und Mysterien. Original 1976/78. Freiburg im Breisgau 1992, S. 86.