Der Weg des Schamanen aus philosophischer Perspektive

In: Symbolon. Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung. Jahrbuch 22 (2025), S. 549-558.

 

[...]

 

Tatsächlich weist bereits die bloße Übersetzung des Wortes „Schamane“ in Richtung Philosophie: Das aus Sibirien stammende Wort Šaman, aus dem Tun­gusischen bzw. Ewenkischen stammend, lässt sich als „Wissender“ übersetzen (vgl. das Verb sa: „Wissen, denken, begreifen“). Der Schamane ist „derjenige, der weiß“. Ša-man lässt sich wörtlich übersetzen als „weiser Mann“ bzw. „wei­ser Mensch“. Natürlich erinnert das an den europäischen Philosophen, jenen „Freund der Weisheit“. φιλόσοφος (philosophos) ist „derjenige, der die Weisheit liebt“. In beiden Fällen haben wir es offenbar mit Menschen zu tun, die es in besonderer Weise mit geistigen Zusammenhängen zu tun haben, mit Geistes­wissenschaftlern.

 

Was ist das nun für ein Weg, dieser Weg des Schamanen, woher kommt er und wohin führt er? Der Weg des Schamanen führt – kurzum – von der diesseitigen Welt in die jenseitige Welt, von der materiellen Menschenwelt in die magische Welt der Geister. Diese Vorstellung, dass neben (über, unter, in) der sinnlich wahrnehm­baren Wirklichkeit eine übersinnliche Wirklichkeit existiert, wie auch immer diese im Detail geartet ist, ist eine überkulturelle Konstante des Schamanismus und findet sich auf allen Kontinenten (bei den sibirischen Ekstatikern ebenso wie bei den ame­rikanischen Ayahuasqueros usw.). Der Schamane ist per definitionem ein Grenzgän­ger, der gewissermaßen auf der Schwelle zwischen den Welten hin und her wandelt. Nun lässt sich natürlich kritisch-rational hinterfragen, ob diese Welten überhaupt existieren: Gibt es nicht nur eine Welt, die sich empirisch nachvollziehen – d. i. ver­messen – lässt? Und ist der Schamane also gar kein Geisteswissenschaftler, sondern ein Geisteskranker, der Wirklichkeiten wahrnimmt, wo gar keine sind?

 

Tatsächlich trifft die Rede von den zwei Welten die klassische Philosophie im Kern. Konkret: die Ideenlehre Platons, dessen Theorien das abendländische Denken geprägt haben wie kaum andere. Für Platon war gleichsam sonnenklar, dass neben (hinter, über oder in) der sinnlich wahrnehmbaren Welt der Erschei­nungen eine geistig wahrnehmbare Welt der Ideen existiert, eine spirituelle Welt, die der materiellen Welt zugrunde liegt und diese begründet – die physische Welt sei nur mehr ein mangelhaftes Abbild, eine Emanation dieser Welt der ideellen Ur-Bilder und vorbildlichen Ur-Ideen. Diese Unterscheidung zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt, wie sie Schamanen vornehmen, ist mitnichten ein Exotikum, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch so ziemlich alle gelehr­ten Diskurse von Platon bis in die Postmoderne (vgl. Substanz und Akzidenz, Schein und Sein usw.).

 

Dennoch erscheint es uns exotisch und esoterisch, dass der Schamane vor­gibt, diese Welten fürwahr auch wahrzunehmen, während die antiken Gelehrten doch in erster Linie darüber sprechen und Theorien aufstellen. Aber bezeichnet das Wort θεωρία (theoria) nicht gerade „die geistige Schau“? Ganz im Gegen­teil hat doch schon Platon explizit zwischen der sinnlichen Wahrnehmung der stofflichen Welt einerseits, ασθησις (aisthesis), und der geistigen Wahrnehmung der intelligiblen Welt andererseits, νόησις (noesis), unterschieden. Und schon immer haben Philosophen versucht, die immaterielle Ideenwelt auch zu empi­risch erfahren. Seit jeher zählt es zur Meisterschaft eines Philosophen, die spiri­tuelle Welt fürwahr wahrzunehmen und philosophisch zu erforschen: Hoheziel des Platonismus ist die Wesensschau bzw. Ideenschau. Das ist kein irrationales Exotikum, sondern der Gipfel der philosophischen Vernunft.

 

Und dies leitet wiederum zum Weg des Schamanen. Denn um in die Welt der Geister reisen zu können, bedient sich der Schamane verschiedener Hilfs­mittel wie Trommeln, Fasten und Isolation oder Drogen. Sinn der Sache ist es, einen Zustand der Trance zu erreichen, einen veränderten Bewusstseinszustand, der es ermöglichen soll, die intelligible Welt wahrzunehmen. Nun mag man so etwas wie „Trance“ als esoterisch-spiritistisches Getue abtun, als irrational und fremdartig verwerfen. Tatsächlich lässt sich dieses Wort jedoch mit einem Fach­begriff der klassischen Philosophie zusammenbringen: Transzendenz, was wört­lich „das Übersteigen, das Überschreiten“ der Grenze zwischen Sinneswelt und Geisteswelt bezeichnet (von lat. transcendentia). Und es handelt sich auch um ein Fachanliegen.

 

Es ist eine fast vergessene Tatsache, dass viele der antiken Philosophen ihre aufgestellten Theorien auch praktisch zu verifizieren suchten oder aber – anders­herum – ihre Theorien sogar erst a posteriori aufgestellten. Zu diesem Behufe bedienten sie sich verschiedener Bewusstseinstechniken, die denen der Schama­nen in nichts nachstehen: Schon die Pythagoreer haben sich in philosophischer Meditation versucht. Von Platon munkelt man, dass er seine Ideenlehre formuliert habe, nachdem er an den Mysterien von Eleusis teilgenommen habe. Und Gnos­tiker aller Couleur übten sich in der mystischen Versenkung, um eine göttliche unio mystica zu erfahren. Besondere Aufmerksam verdient die sogenannte The­urgie (altgr. Θεουργία [theurgia]: „Gotteswerk“), welche verschiedene Praktiken und Riten umfasst, die vor allem im Dunstkreis des Neuplatonismus (Julianus; Plotin, Iamblichos, Proklos) geübt wurden, zum Beispiel das rituelle Einatmen von Sonnenlicht zur Vorbereitung der Wesensschau, für die die Sonne ja Symbol steht, aber auch das seelische Verlassen des Körpers; Trancebotschaften, die die Theurgen empfingen, wurden als Mitteilungen der Götter interpretiert, wobei insbesondere die Göttin Hekate philosophisch verehrt und angerufen wurde. Offensichtlich findet sich in der Theurgie die Grenze zwischen Klassischer Philo­sophie und schamanischem Kultus transzendiert, offenbart sich in der Theurgie deren Wesensverwandtschaft. Man erkennt, wie eng beide Phänomene in Wahr­heit miteinander verbunden sind.

 

Der Schamane ist nun in einen anderen Bewusstseinszustand – in die Anders­welt – eingetreten. Was tut er nun? Er kommuniziert mit Geistern, Göttern und Dämonen. Freilich fällt es modernen Europäern schwer, so etwas ernst zu neh­men. Aber vielleicht nimmt man Sokrates ernster, laut dem Orakel von Delphi immerhin „der weiseste aller Menschen“. Sokrates, der für das abendländische Denken ganz grundlegend ist, nicht umsonst spricht man vom sokratischen Rationalismus, stand nach eigenem Bekunden in permanentem Austausch mit einem Dämon bzw. einem Daimonion, das heißt einem „kleinen Gott“ (altgr. Δαιμόνιον [daimonion]): Man hat versucht, diesen Dämon als „Gewissen“ zu deuten, für Platon aber sind die Dämonen „Mittler zwischen den Menschen und den Göttern“. Im Neuplatonismus sind ganze dämonologische Systeme aufgestellt worden – Dämonologie ist nichts Exotisches, sondern Klassische Philo­sophie. Im Römischen sprach man in demselben Zusammenhang übrigens von einem Genius respektive einem genialen Menschen (vgl. „Genie haben“).

 

Im Zustand der Trance, auf seiner Geist- oder Seelenreise durch die Anders­welt ist der Schamane dazu in der Lage, nicht nur mit Dämonen zu kommuni­zieren, sondern eigentlich mit allen Wesen, die es gibt: Er vermag zum Beispiel auch mit Tier- und Pflanzengeistern bzw. mit deren Seelen in Kontakt zu treten.16 Man hat diese Vorstellung, dass die Welt und alle Phänomene der Natur beseelt sind, als „Animismus“ bezeichnet (lat. anima: „Seele“). Heute wird der Begriff im Wissenschaftlichen nicht mehr so oft verwendet – außer im Zusammenhang mit dem sibirischen Schamanismus, den man explizit auch als „sibirischen Animis­mus“ bezeichnet (man spricht auch von den animistischen Religionen Sibiriens und Zentralasiens, um den „klassischen Schamanismus“ Sibiriens abzugrenzen von den Schamanismen anderer Kulturen bzw. Kontinente). Derselbe Begriff bzw. Bedeutungszusammenhang beschreibt nun aber auch die Seelenlehre bzw. Biopsychologie des Aristoteles, der in seinem Buch De anima (Περ ψυχς [peri psyches]: „Über die Seele“) die Theorie aufstellt, dass neben Menschen auch alle anderen Lebewesen – d. i. Flora und Fauna – über einen Seelenteil verfügen, die vegetative (Pflanze) bzw. sensitive Seele (Tier). Pythagoras und Platon gingen sogar so weit, gleichsam animistisch, dem ganzen Kosmos eine solche Seele zuzusprechen, die sogenannte „Weltseele (anima mundi).

 

Wenn der Schamane schließlich von seiner Reise, von seinem Wege wieder­kehrt, teilt er das Gesehene in Form von Mythen und Symbolen mit, zumindest behauptet er, alle diese Dinge wirklich gesehen und erlebt zu haben. Zugegebe­nermaßen etwas, an das man glauben muss. Gewiss ist unterdessen, dass dies mit der antiken Inspirationslehre, wie Platon sie vorträgt, im Wesentlichen, über­einstimmt, obwohl dieser den Dichtern doch durchaus kritisch gegenüberstand, dass nämlich die wirklich guten Sänger, Aoiden und Rhapsoden aus der Ekstase und dem Enthusiasmus heraus Wahrheit dichten, weil sie musisch inspiriert und gottbegeistert sind.

 

Was ist das nur für ein bemerkenswerter Weg, den der Schamane da geht? Joseph Campbell hat einmal geschrieben, dass der Schamane derjenige sei, der „hinter den Schleier der Natur“ blicke. Ist es Zufall, dass sich diese Definition ins Altgriechische übersetzen lässt und dann die wichtigste und „erste“ Disziplin der gesamten Klassischen Philosophie bezeichnet, die „Metaphysik“ (μετά meta: „hinter“ und φύσις [physis]: „Natur“)? Ich denke nicht, dass es ein Wortwitz ist, sondern nur ein kleinerer Gedankensprung von der Philosophie der vermeintlich Primitiven zur prima philosophia. Bekanntermaßen hat Eliade schon den Schamanismus als metaphysisches System gedeutet und als „Urre­ligion“ interpretiert. Ich würde den Schamanismus vielmehr als „Urphiloso­phie“ bezeichnen und den Schamanen als einen praktischen Philosophen par excellence.

 

[...]

 


Zum Jahrbuch: Externer Link

Zu Symbolon: Externer Link


 

Der Weg des Schamanen aus philosophischer Perspektive

 

Vortrag (Auszüge) auf der 60. Jahrestagung der Symbolon-Gesellschaft. Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung (2021).

 

Tagungsthema: "Symbolik von Wegen und Grenzen–Wege und Grenzen der Symbolforschung". Zur Tagungsseite: Link.