Wenn Naturgeister wirklich sind

Von Elfen, Zwergen und Undinen

In: Info3. Bewusst leben - Gesellschaft gestalten. Dezember 2024, S. 32-37.

 

Heutzutage gilt der Glaube an Naturgeister als „Aberglaube“. Aber das war nicht immer so: Mindestens von den Germanen bis in die Goethezeit, in ländlichen Gegenden sogar noch länger, waren die meisten Menschen von der Existenz dieser Wesen vollkommen überzeugt. Auch Rudolf Steiner kannte die Naturgeister noch und behauptete, dass man sie „geistig“ wahrnehmen könne.

 

r die Mehrheit der heutigen Menschen in Europa sind „Naturgeister“ bloß Fabelwesen aus dem Märchenbuch. Zwar kennt man sie auch hierzulande noch ganz gut und kann zum Beispiel Elfen, Zwerge oder Riesen voneinander unterscheiden. Doch fast niemand mehr hält diese Wesen für real, und die wenigen, die es doch tun, werden schnell als „Esoteriker“ bezeichnet, wenn nicht gleich als „Psychopathen“. Die Naturgeister werden allgemein dem Bereich des „Aberglaubens“ zugeordnet. Dabei handelt es sich per definitionem um einen „falschen Glauben“, der vom vermeintlich „richtigen Glauben“, nämlich dem „Mehrheitsglauben“, abweicht. Der Begriff des Aberglaubens wurde zuerst im Mittelalter von der Kirche pejorativ auf alle „Andersgläubigen“ angewendet. Seit der Neuzeit wird er vor allem gebraucht, um Weltanschauungen abzuwerten, die mit dem materialistischen Rationalismus der Naturwissenschaften inkompatibel sind.

 

Es gibt aber auch Länder, in denen die Sache anders aussieht. Zum Beispiel glauben laut einer Umfrage der isländischen Álfaskólinn mindestens 54 Prozent der Bewohner Islands an die Existenz von Elfen, hier also sogar die Mehrheit der Bevölkerung. Demnach gilt es auf der Atlantikinsel eher als Aberglaube, nicht an die Naturgeister zu glauben.

 

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Island ist freilich nur der Gipfel des Eisbergs. Denn der dortige Glaube an Naturgeister rührt ganz offenbar noch aus einer Zeit und Weltanschauung her, in der noch alle Menschen zwischen Island und Deutschland von der Existenz dieser Wesen überzeugt waren. Was sich auf der abgelegenen Nordatlantikinsel bis in die Gegenwart erhalten hat, war im Altertum eine lebendige Überzeugung aller germanischen Völker, die auf den Gebieten des heutigen Deutschlands, Dänemarks, Schwedens, Norwegens, Hollands, Englands und Islands lebten. Nicht zufällig lassen sich die meisten noch heute geläufigen Bezeichnungen für die Naturgeister auf die germanischen Sprachen zurückführen, zum Beispiel „Elfe“ (germ. *albaz, altnord. álfr, ahd. alb, altengl. ælf, altdän. elve) oder „Zwerg“ (germ. *đwerʒaz, altnord. dvergr, ahd. twerg, altengl. dweorg, altdän. dværg).

 

Für die Germanen waren die Naturgeister keine Fabelwesen, sondern alltägliche Realität, wie alte Überlieferungen mannigfach bezeugen, zum Beispiel die Isländersagas oder die Eddas, Runeninschriften und Zaubersprüche sowie volkstümliche Überlieferungen.

 

Bei den Germanen gab es sogar Gesetze, die den Naturgeistern Landfrieden gewähren sollten: So war es etwa bei den Wikingern fest vorgeschrieben, den mit Tier- und Drachenköpfen verzierten Steven eines Schiffes abzunehmen, sobald man mit dem Schiff in Sichtweite des Ufers kam, um die dort lebenden Landgeister nicht zu vertreiben. Schon im germanischen Altertum war es gängige Praxis, mit größtmöglicher Rücksicht auf diese Wesen vorzugehen, wenn man etwas bauen wollte, namentlich ein neues Gehöft in unberührter Natur: Sowohl die Nord- als auch die Südgermanen vollzogen bei der Landnahme bestimmte Rituale, bei denen es darum ging, den Genius Loci milde zu stimmen; zum Beispiel die Circumambulation, die rituelle „Umgehung“ eines neuen Grundstücks.

 

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In einer zentralen Textpassage des Buches Theosophie (1904) erläutert Steiner, worin aus seiner Perspektive der eigentliche „Aberglaube“ bezüglich der Naturgeister bestehe: „Diejenigen, welche geistiges Anschauungsvermögen haben, nehmen aber solche Wesen wahr und können sie beschreiben. Zu den niedrigeren Arten solcher Wesen gehört alles, was die Wahrnehmer der geistigen Welt als Salamander, Sylphen, Undinen, Gnomen beschreiben. Es sollte nicht gesagt zu werden brauchen, dass solche Beschreibungen nicht als Abbilder der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeit gelten können. Wären sie dieses, so wäre die durch sie gemeinte Welt keine geistige, sondern eine grob-sinnliche. Sie sind Veranschaulichungen einer geistigen Wirklichkeit, die sich eben nur auf diese Art, durch Gleichnisse, darstellen lässt. Wenn derjenige, der nur das sinnliche Anschauen gelten lassen will, solche Wesenheiten als Ausgeburten einer wüsten Phantasie und des Aberglaubens ansieht, so ist das durchaus begreiflich. Für sinnliche Augen können sie natürlich nie sichtbar werden, weil sie keinen sinnlichen Leib haben. Der Aberglaube liegt nicht darin, dass man solche Wesen als wirklich ansieht, sondern dass man glaubt, sie erscheinen auf sinnliche Art“. Oder anders formuliert: Wer ernsthaft davon ausgeht, dass es sich bei den Naturgeistern um physische Figuren handelt, wahrnehmbar mit den fünf Sinnen, materielle Wesen, womöglich noch in menschlicher Gestalt, der wird sie sicher niemals zu Gesicht bekommen. Diese Wesen offenbaren sich uns metaphysisch, geistig-seelisch bzw. „übersinnlich“.

 

Im naturwissenschaftlichen Paradigma sind Steiners Ausführungen zur geistigen Wahrnehmung der Naturwesen natürlich „Aberglaube“. Aus geisteswissenschaftlicher Perspektive machen sie jedoch Sinn. Zumal schon der berühmte Philosoph Platon in der klassischen Antike davon ausging, dass der Mensch nicht nur über ein sinnliches Wahrnehmungsvermögen verfüge, sondern auch über ein geistiges (altgr. noesis): Während ihm ersteres ermögliche, die materielle Erscheinungswelt wahrzunehmen, ermögliche ihm zweiteres, die spirituelle Welt der Ur-Wesen zu schauen. Im germanischen Altertum wiederum sprach man von Ófreskir menn, „Menschen mit dem zweiten Gesicht“, welche mit den Naturgeistern in Verbindung standen; das altnordische Verb ófreski heißt „hellsehen“. Aber auch mit dem, was Goethe das „Sehen mit Geistesaugen“ nannte, stimmt Steiner überein. Und in Island „sieht“ man die Naturgeister sogar noch heute.

 

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Nordische Naturgeister

Leben mit den Wesen des Waldes

 

Elfen, Zwerge, Riesen

 

Das alltägliche Leben der Germanen war von dem Kontakt mit den Naturgeistern bestimmt, deren Wohnstätten sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Gärten und Gehöften der Menschen in den Wäldern befanden.

 

In den Bäumen lebten Elfen, in der Erde wohnten Zwerge und in den Bergen hausten Trolle. Sagen berichten von Waldgeistern, wilden Männern und Moosfräulein. Bräuche belegen die Verehrung von Haus- und Hofgeistern. Viele dieser Wesen waren gute Freunde und Hilfsgeister, andere gefährliche Feinde, vor denen man sich mit ganz bestimmten Ritualen, Zaubersprüchen, Runen und Amuletten schützen musste.

 

Thomas Höffgen beschreibt das Leben der Germanen mit den Wesen des Waldes und verfolgt die Spuren der Naturgeister vom Altertum bis in die Gegenwart.